Erinnern ist ein aktiver Prozess
Woran erinnern wir uns in zehn Jahren?
Woran werden wir uns in zehn Jahren erinnern? Werden wir uns an die schrecklichen Ereignisse der Zeit erinnern, Klimawandel, Corona-Pandemie, Kriege? Werden wir unsere angenehmen Dinge im Vordergrund sehen wie wunderbare Reisen, sportliche Erfolge, privates Glück? Oder werden wir uns in die wohlige Decke der Nostalgie hüllen und seufzend bedauern, dass damals doch alles viel besser war?
Es ist unmöglich vorherzusagen, wie wir in ferner Zukunft die Vergangenheit bewerten. Denn wenn Erinnerungen auftauchen, hat die aktuelle Stimmung und Gemütslage der Erinnerung ihren Stempel aufgedrückt. Erinnerungen werden bei jedem Aufruf gestärkt, abgeschwächt, verschönert, verklärt, auf jeden Fall verändert und neu abgespeichert.
Besonders Fotoalben sind bestens geeignet, das Gedächtnis auszutricksen. Das fängt schon bei der Aufnahme an, wenn dem Portraitierten gar nicht zum Lachen zumute ist, er aber aufgefordert wird, zu lächeln, oder Fotos eine glückliche Kindheit vorgaukeln, welche nur selten erlebt wurde. Fotos können magische Momente hervorrufen oder das Glück im Leben erwecken. Negative Aspekte werden ausgeblendet.
Immer genauer gewinnen Wissenschaftler Einblick in die neuronalen Grundlagen dieser Nachbearbeitung. Federführend für die Verfälschung der Erinnerungen ist der Hippocampus, der dafür sorgt, dass nützliche Informationen in das Langzeitgedächtnis gelangen.
Trifft eine neue Information auf unser Nervennetzwerk, ändern die Zellen ihre Verknüpfungen. Nervenzellen sind die Bausteine des Denkens, und Denken ist kein statisches Ereignis, sondern ein sich stets wandelnder Prozess. Kontaktstellen werden angepasst und Erinnerungen werden ständig verändert. Auch wenn wir uns erinnern, können wir unserem Gehirn nicht trauen. Wir vergessen nicht nur, wir verfälschen, verändern, verformen unsere Erinnerungen wie eine Knetmasse und werfen durcheinander, wer was wann gesagt hat. Mit jedem Abruf werden Erinnerungen situativ angepasst.
Ein Psychologenteam von Kimberly Wade von der britischen Universität of Warwick machte mithilfe gefälschter Fotos ein bemerkenswertes Experiment. Probanden wurden Fotos aus ihrer Kindheit vorgelegt, welche die Forscher von den Eltern der Teilnehmer erhalten hatten. Die Wissenschaftler hatten die Bilder vorab manipuliert. Auf den Fotos sah es so aus, als ob die Probanden eine Fahrt mit einem Heißluftballon erlebt hätten. Das taten sie aber nie. Anschließend sollten die Studienteilnehmer erzählen, woran sie sich erinnerten. Während sie von ihren Kindheitserlebnisse berichteten, tappte die Hälfte in die Erinnerungsfalle. Sie berichteten von ihrer Heißluftballonfahrt, an der sie nie teilgenommen hatten.
Auch wenn Menschen dazu neigen, negative Nachrichten stärker zu beachten und sich mit Gesprächspartnern über das, was nun völlig unmöglich erscheint, auszutauschen, verfügen Menschen über die verblüffende Fähigkeit, Enttäuschungen, miserable Begebenheiten und Niederschläge in großartige Erfahrungen zu wandeln und sich sogar an Ereignisse erinnern, an denen sie nicht teilgenommen haben. Und das hat einen Grund!
Erinnern Sie sich?
Verfälschen, um die Zukunft zu meistern
Unser Gehirn ist eine Dauerbaustelle
Das Gehirn ist nicht dazu gemacht, sich alles für immer zu merken. Das Gehirn ist eine Dauerbaustelle. Vergessen ist notwendig, um den Alltag zu meistern. Vergessen schafft Platz für Neues, wobei unangenehme Inhalte wir nur scheinbar vergessen, häufig verlieren sie nur ihre negative Tönung. So kann sich eine problematische Schulzeit in einen glücklichen Lebensabschnitt wandeln, so kann ein Stinkstiefel zu einer sympathischen Person mutieren, und ein Unglück zum Startschuss einer seit Langem ersehnten Veränderung werden. „Unser Gedächtnis funktioniert nicht wie ein Kassettenrekorder, der etwas aufnimmt und dann kann man es einfach abspielen. Erinnern ist ein kreativer Prozess: Wenn wir uns erinnern, dann formen wir Fragmente, die wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an unterschiedlichen Orten erlebt haben, zu einer Erinnerung oder zu etwas, das sich wie eine Erinnerung anfühlt.“ (Elisabeth Loftus, in: Das Gehirn Info, 22.7.2011)
Das Gedächtnis bündelt die Informationen thematisch, bildet Kategorien und fügt alles zu einem stimmigen Bild zusammen, das mit der aktuellen Bedürfnislage und unseren übergeordneten Handlungszielen in Einklang steht. Das erklärt auch, warum Schlüsselreize große Erinnerungsbrocken hervorrufen können: ein bestimmter Song erinnert zum Beispiel an die erste Liebe, der Duft von Kuchen bringt die Großmutter in Erinnerung, ein bestimmter Geschmack führt dazu, dass ein ganzer Abend in einem Restaurant auftaucht. Besonders die beiden Sinne Riechen und Schmecken tragen dazu bei, verschüttet Erinnerungen zum Leben zu erwecken und in unfreiwillige Erregungszustände zu versetzen. Das haben wir intuitiv irgendwie immer gewusst, eigene Erfahrungen haben das bestätigt. Berühmt geworden ist das Erinnerungserlebnis von Swann, dem Lebemann in dem ersten Kapitel des Romans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Als Swann eine Madeleine genießt, erinnert er sich an seine Tante. Wissenschaftler nennen jene unwillkürlich aufspringenden Erinnerungen an Jugenderlebnisse seither "Proust-Phänomen".
Für den Neurobiologen Henning Beck sind Vergessen und Verfälschen die „Geheimwaffen des Lernens“ und Menschen sind „Weltmeister im Vergessen.“ Lernen besteht nicht grundsätzlich darin, möglichst viele Informationen aufzunehmen und dauerhaft verfügbar zu machen. Wir lernen auch nicht, wenn wir eine Bildungseinrichtung betreten, sondern immer. Unser Gehirn wendet beim Lernvorgang eine raffinierte Technik an. Die Kontaktstellen zwischen den Neuronen bleiben nicht dauerhaft stabil, sie können auch abgeschwächt oder komplett abgebaut werden. Erfolgreiches Lernen entsteht „aus dem Gleichgewicht zwischen einer stabilen Erinnerung und cleverem Vergessen.“ Das Gehirn verfolgt nicht die Absicht, das wiederzugeben, was in der Vergangenheit liegt, sondern sinnvoll erscheinende Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. „Und das ist notwendig, um das Gelernte auch anwenden zu können. Wer hingegen nur zurückschaut, perfekt und fehlerfrei, sieht vielleicht nicht, was auf ihn zukommt. Er kann die Vergangenheit korrekt wiedergeben – aber damit etwas Sinnvolles anzufangen, erfordert noch ein bisschen mehr.“ (Dr. Henning Beck im lesenswerten Buch "Das neue Lernen heißt verstehen")